ALLEGAEON – The Ossuary Lens (2025)
(9.488) Olaf (10/10) Death Metal

Label: Metal Blade
VÖ: 04.04.2025
Stil: Death Metal
Es gibt so Tage, in denen alles klar scheint: das Album der Woche ist gesetzt, die Grafik steht, alles ist vorbereitet. Und dann kommt ALLEGAEON mit The Ossuary Lens und tritt der Routine so gnadenlos vors Schienbein, dass man mit Tränen in den Augen und offenem Mund zurückbleibt – nicht vor Schmerz, sondern vor Ehrfurcht.
Seit über 15 Jahren faszinieren mich diese Technik-Death-Monster aus Fort Collins, Colorado. Ich bin Fan der ersten Stunde, von The God Particle bis Apoptosis, und auch das großartige Damnum hat sich tief in mein musikalisches Langzeitgedächtnis eingebrannt. Dass dieses Meisterwerk jemals übertroffen werden könnte? Ich hätte es nicht zu hoffen gewagt. Aber hier sind wir nun – und The Ossuary Lens pulverisiert den Vorgänger wie ein Teilchenbeschleuniger ein Teelicht.
Schon der Titel klingt nach morbider Philosophie-Vorlesung im Dämmerlicht: The Ossuary Lens. Ein Blick durch die Linse des Todes – vielfältig, vielschichtig, faszinierend. Kein klassisches Konzeptalbum, aber dennoch ein durchgängiges Thema: Jeder Song betrachtet das Sterben aus einer anderen Perspektive – mal wissenschaftlich, mal persönlich, mal historisch, mal psychologisch.

Musikalisch ist dieses siebte Studioalbum ein Monument technischer Präzision und emotionaler Tiefe. Die Gitarren kreiseln, flirren, zersägen Raum und Zeit. Die Drums preschen wie Hirnstromwellen bei einer Nahtoderfahrung. Und über allem thront: Ezra Haynes. Zurück am Mikrofon nach zehn Jahren, knurrt, schreit, röhrt und predigt er, als hätte er die letzten Dekaden in einem apokalyptischen Kloster verbracht.
Die Produktion von Langzeit-Weggefährte Dave Otero ist – wie immer – überragend. Transparent, fett, detailliert. Man hört jede Nuance, spürt jede Zäsur, wird regelrecht hineingesogen in dieses progressive, symphonische, technische und dabei zutiefst menschliche Death-Metal-Wunderwerk.
Nicht zu vergessen: Der Entstehungsprozess, diese sagenumwobenen Schreib-Retreats, bei denen sich die Band zurückzieht, um Musik zu sezieren, neu zu arrangieren, in Schweiß zu marinieren und schließlich zu perfektionieren. Kein Wunder, dass The Ossuary Lens so geschlossen klingt – hier hat jeder Ton seinen Platz, jede Pause einen Sinn, jeder Song ein Gewicht. Die Tracks strotzen nur so vor Ideen. Refraction öffnet das Album mit einem mächtigen Instrumentalvorspiel, das sich wie eine Schwarze Sonne über dem Hörer ausbreitet. Chaos Theory zerlegt anschließend alles in seine Einzelteile, serviert mathematischen Wahnsinn mit Groove.
Und dann – dann kommt Dark Matter Dynamics. Wo andere nur Blastbeats und Arpeggios liefern, lassen ALLEGAEON plötzlich ein Country-Gitarrenmotiv aufflammen. Ja, wirklich: Country. In einem Death-Metal-Song. Das müsste eigentlich klingen wie Gojira auf einem Rodeo, aber es ist einfach… genial. Der Song gehört auf die Jahres-Playlist. Punkt. Auch Wake circling above verdient besondere Erwähnung. Der erste Teil des Stücks flirtet fast mit epischem Doom, schwebt majestätisch dahin, bevor im zweiten Teil wieder die Hyperblast-Realität einsetzt. Diese Dynamik, diese Liebe zum Detail, diese schiere Bandbreite – es ist atemberaubend.
ALLEGAEON liefern mit The Ossuary Lens nicht nur ihr bestes Album ab, sondern ein Ausrufezeichen hinter ein ganzes Genre. Technischer Death Metal muss nicht steril, überladen oder verkopft sein. Er kann mitreißend, bewegend, clever und – ja – schön sein. Dieses Album ist ein Beweis dafür, dass musikalische Exzellenz, emotionale Tiefe und kreative Kühnheit Hand in Hand gehen können. Es bleibt die Frage: Warum spielt diese Band nicht längst auf den großen Bühnen dieser Welt? Vielleicht weil sie zu gut ist, zu konsequent, zu unbequem? Egal. Für mich ist The Ossuary Lens ein Triumphzug. Ein Götterfunke in der Knochenschatulle. Ein Album für die Ewigkeit – und ganz sicher auf meiner Jahres-Top-10-Liste 2025.