CHONTARAZ – Phantom of Reality (2025)
(9.578) Olaf (7,0/10) Modern Metal / Industrial

Label: SAOR
VÖ: 09.05.2025
Stil: Modern Metal / Industrial
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Also wenn mir jemand gesagt hätte, dass das hier aus Norwegen kommt, hätte ich ihm vermutlich die Bluetooth-Verbindung zur Realität gekappt. Ich hätte auf Tschechien getippt. Oder Polen. Vielleicht Italien. Aber Norwegen? Das Land, aus dem sonst eisig klirrende Black-Metal-Kanonaden oder folkig-verträumte Prog-Miniaturen kommen? Stattdessen höre ich da Marilyn Manson, höre Spin the Wheel, denke an Dymytry und kriege Sakis Tolis serviert – allerdings nicht als Hauptgang, sondern als Gast in Scream. Drei Schwalben machen noch keinen Frühling. Oder auf Norwegisch: „Det er fortsatt vinter, kompis.“
Aber eins nach dem anderen. CHONTARAZ wurden 2015 in Hell (kein Witz) aus der Taufe gehoben und hatten damals wohl den Plan, eine theatralisch aufgeladene Metal-Show zu kreieren, irgendwo zwischen Modern Metal, Industrial, ein bisschen Gothic und einer Prise Synth-Fetisch. Das Debüt Rondamauh produzierte niemand Geringeres als Daniel Bergstrand – das war ein Statement. Speed the Bullet ging danach auf Tour mit Sepultura, Soulfly und Kamelot. Und jetzt also Phantom of Reality – Album Nummer drei, aufgenommen unter der Ägide von Produzent/Drummer Fotis Benardo, der scheinbar als Narwhal seinen walfangenden Häschern entkommen zu sei scheint.
Alles wirkt wie ein großes, durchchoreografiertes Projekt: bombastisch, düster, elektronisch aufgeladen und mit dicker Hose produziert. Die Gitarren pumpen wie bei Static-X auf Valium, die Vocals erinnern mal an eine Light-Version von Rammstein, mal an eine auf Autotune gedrehte Marilyn-Manson-Parodie. Die Hooks sind zweifellos da – You're the One to Blame oder Nail funktionieren sofort – aber nach fünf Songs ist auch klar: Das alles wirkt ein bisschen zu gewollt. Der Groove ist da, keine Frage. Nur klingt alles so poliert, dass man sich wünscht, mal ein bisschen Rost oder echten Schmutz zwischen den Zahnrädern zu spüren.

Ja, man kann mit diesem Album richtig Spaß haben. Wenn man sich darauf einlässt, dass hier kein atmosphärischer Tiefgang à la Rotting Christ oder poetische Abgründe wie bei Tiamat zu erwarten sind. Das hier ist Stadion-Metal mit Matrix-Optik. Und das funktioniert... für ein paar Tracks. Dann stellt sich die Frage: War das jetzt Track sieben oder Track vier nochmal mit anderen Vocals? Der Fluch vieler Industrial-Metal-Bands schlägt auch hier zu – der Groove ist konstant, der Sound fett, aber die Dramaturgie bleibt auf der Strecke.
Und das ist schade, denn mit Sakis Tolis als Gast, einem erfahrenen Produzenten und durchaus vorhandenen Ideen (man höre nur das interessante The Flick of Time) hätte hier mehr passieren können als ein gut gemachter, aber eben sehr kalkulierter Metal-Monolith. Vielleicht liegt das auch an der Inszenierung: Wenn alles so perfekt sitzt, verliert man irgendwann das Interesse, weil nichts mehr wackelt, rumpelt oder überrascht. Chaos und Ordnung mögen laut Pressetext im Gleichgewicht sein – aber ich hätte mir etwas mehr Chaos gewünscht. Kleine Randnotiz: Ein Album, das mit so viel Selbstbewusstsein und Professionalität inszeniert wird, sollte auch auffindbar sein. Aktuell findet man Phantom of Reality weder physisch noch digital besonders leicht – und das bei einem Release, das laut eigener Aussage den modernen Metal neu definieren will. Da wäre ein kleiner Realitätsabgleich hilfreich. Oder ein Verkaufslink. Oder überhaupt ein Link.
CHONTARAZ wollen viel. Und das ist erstmal gut. Phantom of Reality ist ambitioniert, bombastisch produziert und bietet viele gute Grooves. Aber das Album wirkt wie eine glänzende Rüstung ohne Ritter darin: massiv, eindrucksvoll – aber irgendwie leer. Wer sich an Marilyn Manson, Dymytry und Pain erfreuen kann, wird hier sicher seine Freude finden. Wer Tiefe, Abwechslung oder organische Reibung sucht, wird sich allerdings fragen, ob das Phantom der Realität nicht doch besser eine Realität mit Phantomen gewesen wäre.
Anspieltipps:
🔥Istanbul
💀Scream (feat. Sakis Tolis)
Bewertung: 7,0 von 10 Punkten
TRACKLIST
01. Istanbul
02. Prayer to the Masses
03. You’re the one to blame
04. The Flick of Time
05. Scream (feat.Sakis Tolis)
06. Face the Fake
07. Spin the Wheel
08. Nail
09. Dressed to kill
10. Kingpin