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Q&A - Das Interview: ARJEN LUCASSEN
Der Ritter, den niemand hören will?

Der September hat es für Arjen-Lucassen-Fans in sich. Denn der Kopf hinter der Prog-Institution AYREON und so vielen anderen tollen Nebenprojekten beschert uns mal wieder einen üppigen Gabentisch. Umso glücklicher war ich, dass der unglaublich sympathische Niederländer so kurz vor dem großen AYREON-Konzertwochenende noch Zeit für ein Interview gefunden hat. Schließlich gab es ja auch eine Menge zu besprechen.
Hallo Arjen, schön, dich wiederzusehen! Als wir uns vor einem Jahr unterhalten haben, warst du extrem beschäftigt: Das PLAN-NINE-Album war gerade frisch erschienen, dazu die „01011001-Live“-Bluray, und du hast an Simone Simons’ Soloalbum mitgearbeitet. Jetzt veröffentlichst du ein neues Soloalbum namens „Songs No One Will Hear“, bringst außerdem deine 1993er ANTHONY-Platte „Pools of Sorrow, Waves of Joy“ neu heraus. Und beides auch noch ausgerechnet an dem Wochenende, an dem es fünf AYREON-Konzerte in Tilburg an drei Tagen gibt. Dazwischen hast du außerdem noch eine überarbeitete Version von „The Human Equation“ veröffentlicht. Gibt es überhaupt Momente, in denen du auch mal durchatmen kannst?
Eigentlich nicht – Pausen liegen mir nicht. Ich bin ein ziemlicher Einsiedler, habe kein Sozialleben, keine Familie, keine Kinder (lacht). Ich gehe am liebsten ins Studio und arbeite. Das klingt nach einem Workaholic, aber das bin ich eigentlich gar nicht. Die Abende halte ich zum Beispiel immer frei und schaue meine Serien im Fernsehen.
Also gehört die restliche Zeit komplett der Musik?
Genau. Keine Wochenenden, keine Feiertage – ich arbeite immer und finde auch ständig etwas zu tun.
Und obendrein wurdest du kürzlich vom König der Niederlande zum Ritter geschlagen. Wie kam es dazu?
Das war total verrückt. Ich wartete zu Hause auf ein Paket, es klingelte, und vor der Tür stand nicht der Postbote, sondern eine ganze Gruppe Leute – darunter ein Mann mit einer großen Kette. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Ich sah meinen Bruder, Joost (van den Broek, u. a. Arjens Co-Produzent der AYREON-Shows, Anm.) und Freunde, außerdem noch Leute mit Kameras. Ich dachte schon, es sei etwas Schlimmes passiert. Der Bürgermeister begann eine Rede, las die Nachrichten vor, die von rund fünfzig Leuten eingereicht wurden, um mich zum Ritter vorzuschlagen. Das war wirklich herzerwärmend. Ich war völlig überrumpelt und konnte es in dem Moment kaum genießen.
Immerhin haben sie dich nicht in Pyjama überrascht.
Fast. Lori, meine Partnerin, hatte mir vorher die Haare gerichtet – macht sie sonst nie. Da hatte ich mich schon etwas gewundert. Ich trug aber ein altes T‑Shirt mit echt großen Löchern. Als der Bürgermeister dann versuchte den schweren Metallanhänger an dieses zerschlissene T-Shirt zu hängen, fühlte ich mich echt beschissen. Das Ding würde die Löcher nur noch größer machen (lacht). Ich stand also halb nackt da mit dem Bürgermeister und dem Ritterorden. Irgendwann hatte er dann Erbarmen und sagte: „Warum ziehen Sie sich nicht etwas anderes an?“ Also habe ich mir für die Fotos schnell ein Hemd übergeworfen.
Eine sehr großartige Geschichte. Aber die Niederlande scheinen ja ein wirklich cooles Land zu sein. Ich stelle mir gerade vor, wie ein Metal-Musiker in Deutschland für seine Kunst das Bundesverdienstkreuz erhält. Das ist bisher noch nicht passiert, soweit ich weiß. Ist euer König etwa ein Metalhead?
Keine Ahnung. Die Auszeichnung war jedenfalls die höchste, die man kriegen kann – der Löwenorden. Nur sieben Personen haben ihn überhaupt bekommen, alles Wissenschaftler oder Lehrer. Den König selbst habe ich natürlich nicht getroffen, sondern den Bürgermeister. Der sagte immerhin, er sei mit KISS aufgewachsen, also war es cool für ihn.
Dann widmen wir uns doch einmal der Musik. Du hast dich wieder entschieden, mehrere Alben am selben Tag zu veröffentlichen. Ist das nicht tierisch stressig? Oder findest du es besser, alles auf einmal zu machen? So nach dem Motto: Augen zu und durch?
Gute Frage! Ich habe jetzt ca. 80 Interviews gegeben, aber das hat bisher noch niemand gefragt (lacht). Der ursprüngliche Plan waren ja nur die AYREON-Shows. Dann hatte ich die Idee, endlich mein erstes Soloalbum („Pools of Sorrow, Waves of Joy“, 1993 unter dem Namen ANTHONY, Anm.) neuaufzulegen, weil es damals gefloppt ist. Schließlich bekam ich die Rechte zurück und dachte: „Perfekt, dann kann ich es bei den Shows verkaufen.“ Gleichzeitig lief die Arbeit am neuen Soloalbum plötzlich richtig gut. Joost meinte zwar: „Mach langsam, überstürz es nicht“, aber es ging unglaublich schnell. Ein Soloalbum ist eben einfacher – ich brauche da ja keine zwanzig Sänger wie bei AYREON. Normalerweise bestimme ich meine Veröffentlichungstermine selbst. Diesmal gab es halt eine echte Deadline – das war okay und auch motivierend.
Hast du Sorge, dass das Soloalbum in der Fülle untergeht? Den Titel „Songs No One Will Hear” hättest du dann jedenfalls passend gewählt.
(lacht) Nein, da mache ich mir keine Sorgen. Bei den vorherigen Shows war das Merchandise oft schon am ersten Tag ausverkauft – je mehr Auswahl wir dort also haben, desto besser. Und beim Kauf vor Ort sparen die Leute sich noch die Versandkosten und greifen daher vielleicht eher zu. Gerade die Neuauflage von „Pools of Sorrow…“ macht Sinn, da ich oft danach gefragt werde, weil es vielen Fans noch in der Sammlung fehlt.
Eine Frage, die mir sofort in den Sinn kam, als „Songs No One Will Hear“ angekündigt wurde. Was ist das mit Arjen, diesem eigentlich immer freundlichen Hippie, dass er bei jeder Gelegenheit versucht, die Menschheit auszulöschen? Denn es ist nicht das erste Mal, dass du die Menschheit aussterben lässt. Was haben wir dir diesmal getan?
Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, warum das immer wieder passiert (lacht).
Bei genauerer Betrachtung ist es aber eigentlich auch nicht wirklich überraschend, dass wir auf deinem neuen Album wieder in Schwierigkeiten stecken. Denn das war bei dir ja schon seit je her so. Im Prolog zum allerersten AYREON-Album „The Final Experiment“ heißt es ja gleich zu Beginn: „Die Menschheit hat sich selbst zerstört.“ Jetzt muss der gute alte Asteroid den Job übernehmen. Die wievielte Auslöschung ist das jetzt eigentlich? Ich erinnere mich an die sechste Auslöschung auf „01011001“ (AYREON-Album aus 2008).
Ich verliere da auch langsam den Überblick. Es sind ja nicht immer nur die Menschen, die ich zerstöre. In „The Fifth Extinction“ (auf „01011001“, Anm.) ging es ja auch den Dinosauriern an den Kragen.
Was fasziniert dich denn so an diesem Thema?
Ich mag Kontraste – von ganz klein bis sehr groß und bombastisch. Was ist größer als das Ende einer Welt? Trotzdem geht es mir immer um menschliche Emotionen, um das, was in den Köpfen passiert – wie bei „The Human Equation“. Nicht der Zerstörungsakt steht im Vordergrund, sondern die Reaktionen der Menschen.
Genau das thematisieren auch die Songs: Manche verzweifeln, andere feiern, wieder andere ziehen sich zurück oder halten es für Fake News. Was würde Arjen Lucassen in Angesicht des drohenden Unheils tun? – was passiert auf Sanctuary Island?
Nun, die Story dreht sich um Sanctuary Island, den Einschlagsort. Dr. Slumber, ein wiederkehrender Charakter aus meinem vorherigen Soloalbum („Lost in the New Real“ von 2012, Anm.) organisiert eine Bustour dorthin. Ich wäre lieber am Ort des Geschehens, als im weltweiten Chaos aus Tod, Hunger, Tsunamis und Anarchie. Ich stelle mir eine Hippie‑Kommune vor: Alle Hand in Hand, singend – und dann kommt der Asteroid…

Das Album wirkt trotz mancher leichter Momente insgesamt melancholisch. Täuscht der Eindruck?
Nein, das ist schon so. Natürlich gibt es Songs, in denen Leute denken: „Hey, noch fünf Monate – Lasst uns den Rest der Zeit einfach Party machen!“ Aber in Stücken wie „We’ll Never Know“ geht es sehr traurig zu. Es handelt von einem Paar, dass ein Kind erwartet, welches sie nun nie kennenlernen werden. Auch im Intro „The Clock Ticks Down“ zoome ich auf Einzelschicksale. Manche wollen noch einmal das Meer sehen, andere beenden ihr Leben, wieder andere suchen Versöhnung mit entfremdeten Angehörigen.
Als Erzähler hast du Mike Mills engagiert, der zwischen den Songs als eine Art Radiomoderator das Geschehen immer mit zynischen Kommentaren humorvoll beschreibt. Brauchte das Album in deinen Augen diesen humorvollen Gegenpol?
Ich finde ja. Ich wollte keinen pathetischen „Weltuntergangs‑Sprecher“, sondern jemanden, der lustig und zugleich tief emotional sein kann. Mike war perfekt. Er schrieb etwa 80 % seiner Texte selbst – wie immer brillantes Zeug, aber leider auch zu lang. Die größte Herausforderung war das Kürzen auf rund 20 Sekunden pro Song. Da mir das zu schwerfiel, habe ich ihn das lieber selbst machen lassen (lacht).
In der Artbook‑Edition gibt es eine CD ohne seine Erzählungen. Dadurch wirkt das Album tatsächlich noch einmal ganz anders. Welche Version bevorzugst du?
Oh, ich bevorzuge definitiv die Version mit Mikes Erzählungen. Die erzählerlose Variante ist eigentlich auch nur für Playlists bei Spotify und so gedacht – damit nicht ständig eine Stimme hineinplatzt. Außerdem hatten sich beim letzten AYREON‑Album „Transitus“ einige Fans über zu viel Gerede beschwert. Vermutlich waren viele mit dem Tom Baker, den ich als Sprecher dafür gewinnen konnte, nicht so ganz vertraut. Für mich war das toll. Immerhin ist er mein liebster Doctor-Who-Darsteller. Aber daher haben wir uns für die zusätzliche CD ohne Narration entschieden. Quasi als Service für die Fans.
Du streust auch immer wieder gerne Querverweise auf frühere Werke ein. Dadurch könnte man meinen, nicht nur deine AYREON-Alben, sondern auch andere Sachen wir „Songs No One Will Hear“ würden irgendwie zusammenhängen. Hast du tatsächlich so einen großen Masterplan für ein Arjen-Lucassen-Universe oder entsteht das spontan?
Nein, ich habe wirklich keinen großen Plan. Bei meinem ersten AYREON-Album „The Final Experiment“ dachte ich ja, dass es eine einmalige Sache sein würde-. Doch dann ging es weiter mit „Actual Fantasy“ (AYREON-Album von 1996, Anm.). Da gab es zunächst keine Verbindung zum Album davor. Das fing erst ab „Into the Electric Castle“ (AYREON-Album von 1998, Anm.) an. Da begannen die Fäden sich zu verknüpfen. Beim Arbeiten fallen mir immer mal Bezüge ein – etwa zu den „Forever“ (zentrale außerirdische Rasse in der Storyline der meisten AYREON-Alben, Anm.), die vor 65 Mio. Jahren die Dinosaurier auslöschten. Solche Ideen tauchen einfach auf. Genau wie Peter Daltreys Stimme am Ende, der ja als Erzähler bei „Into the Electric Castle“ schon dabei war.
Musikalisch fühlte ich mich oft an die BEATLES oder SIMON & GARFUNKEL erinnert – besonders in den Strophen. Liege ich damit richtig?
Oh ja, die BEATLES sind immer da – viele merken es nur nicht, weil sie vor deren Zeit groß waren. Meine Fans hören eher DREAM THEATER, OPETH oder STEVEN WILSON. Gerade bei meinen Soloalben merkt man die Einflüsse dann aber mehr. Ich verfüge ja auch nur über einen eher begrenzten Stimmumfang. Und daher passe ich eher in diese Beatles-Richtung und bin kein klassischer Metalsänger. Aber gut beobachtet. Ich finde auch ein Stück wie „Just Not Today“ könnte durchaus von Paul Simon stammen.

Auch die Instrumentierung unterstützt diesen Eindruck. Du hast wieder vermehrt mit Flöten und Streichern, also echten akustischen Instrumenten gearbeitet. Außerdem dieses Mal deutlich weniger Synthesizer eingesetzt.
Absolut. Im Gegensatz zu „Lost in the New Real“, wo viel programmiert und produziert war, sollte dieses Album organischer klingen. Die letzten Projekte habe ich mit Drummer Koen Herfst (PLAN NINE, SUPERSONIC REVOLUTION) gemacht – er hat ein eigenes Studio und großartige Ideen. Das gab dem Ganzen mehr Band‑Gefühl. Und ja: John Lennon ist mein Lieblingssänger. Ich klinge nicht wie er, aber die Prägung ist da.
Auf dem neuen Album sind wieder viele Gäste dabei – u. a. Robert Soeterboek (u. a. PLAN NINE, AYREON), Marcela Bovio (ex STREAM OF PASSION, AYREON) und Floor Jansen (NIGHTWISH). Wie kam es zu den Besetzungen?
Bei den Stimmen war Irene Janssen (PLAN NINE, AYREON) meine erste Wahl für die Backings. Sie ist so wandlungsfähig, hat eine tolle Aussprache und bringt auch viel Schauspiel mit ein. „We’ll Never Know“ hingegen ist wie bereits erwähnt extrem traurig. Floor Jansen kann solche Emotionen glaubwürdig tragen.
Absolut. Floor singt wieder einmal wirklich phänomenal. Vor allem in der zweiten Hälfte. Aber da muss ich dir auch einmal ein Kompliment machen. Sich mit ihr auf eine Aufnahme zu trauen, dazu braucht es schon eine Menge Mut. Aber du hast das wirklich super gemacht.
Das freut mich zu hören. Aber mit einer Stimme wie Floor kann ich natürlich nicht mithalten. Das habe ich daher auch gar nicht erst versucht. Aber man bleibt in seinen Stärken und bildet Kontraste.
Und ich meine am Ende eines Songs auch deinen Hund Fjorf gehört zu haben. Oder hast du dir einen Gasthund eingeladen?
(lacht) Das hätte er vermutlich nicht so toll gefunden. Ja, es ist tatsächlich er. Er ist inzwischen auch ein Profi im Studio und lässt sich schnell zum Bellen bringen. Beim Song „Shaggathon“ gehe ich textlich wenig subtil vor. Da war mir klar: Da gehörte dann ein bisschen Fjorf mit hinein.
Mittlerweile ähneln deine Soloaben immer mehr vom Grundsatz her deinen AYREON‑Alben. Schließlich schreibst und produzierst du alles selbst und lädst viele Gäste ein. Was unterscheidet die Arbeit am Soloalbum da noch von der Arbeit an AYREON? Ist es nur die Komplexität der Musik?
Ja, definitiv. AYREON ist eine Rockoper mit vielen Charakteren und Stimmen – das ist logistisch hochkomplex: Sänger Anfragen, Verteilen, Einfliegen, Interaktionen organisieren. All das Zeug. Soloalben sind zwar auch Konzeptalben, aber im Grunde nur mit einer Hauptfigur – nämlich mir. Und dann eventuell noch ein paar Nebenfiguren. Ich singe da ja auch rund 80 % selbst und kann ganz effizient arbeiten. Zum Beispiel singe ich tiefe Stimmen eher frühmorgens, da es mir dann leichter fällt, da ein gutes Ergebnis zu erreichen. Aber das kann ich alles spontan und ganz nach Lust und Laune machen. Das macht es schneller und einfacher.
Deshalb dauert eine AYREON-Produktion auch immer so lange?
Genau. Für ein AYREON-Album brauche ich Jahre. Ein Soloalbum kann ich in weniger als einem Jahr schaffen.
Okay, also wird es irgendwann wieder neue Musik unter dem Namen AYREON geben? Immerhin mussten deine Fans noch nie so lange auf ein neues Album warten wie zuletzt.
Ja, das wird es definitiv geben. Und ich glaube auch, dass es jetzt wieder Zeit dafür wird. Ich habe auch schon viele Ideen auf meinem Handy gesammelt. Aber ich bin mir noch nicht sicher, wie es klingen wird. Soll ich wieder etwas Verrücktes machen wie „Into the Electric Castle“ mit Aliens, Ägyptern und Zauberern oder etwas Ernstes wie in „The Source“ (AYREON-Album von 2017, Anm.), wo es um die Gefahren von künstlicher Intelligenz ging? Ich denke viel darüber nach.
Mir ist wichtig, dass die Fans es mögen. Es passiert alles bei mir immer total organisch. SUPERSONIC REVOLUTION (Nebenprojekt von 2023, Anm.) entstand zum Beispiel, weil ein Magazin kurzfristig ein Cover eines Songs bei mir angefragt hatte. Dafür trommelte ich dann ein paar meiner Leute zusammen und wir nahmen den Song auf. Der war so cool, dass daraus ein ganzes Album folgte. Oder nimm PLAN NINE (Nebenprojekt von 2024, Anm.). Das kam zustande, weil Robert unsere alten Songs neu aufnehmen wollte, um wieder die Gelegenheit zu haben, mehr live aufzutreten. Und mit Simone Simons entstand die Idee zu einem elektronisch‑düsteren Solo-Album. Das alles ergab sich oft spontan aus einem Telefonanruf. Und nach all diesen vielen Projekten für andere Musiker und Musikerinnen war dann jetzt mal wieder ein eigenes Soloalbum dran. Aber ja: Nach fünf Nebenprojekten wird es definitiv wieder Zeit für AYREON.

Dieses Jahr feiert AYREON ja auch 30‑jähriges Jubiläum. Für die Tilburg‑Shows hast du ja hierzu angedeutet, dass es zur Hälfte nie live gespielte Stücke geben wird, und ansonsten bewährte Klassiker.
Genau – wobei ich damit nicht nur AYREON‑Songs meinte, sondern generell Stücke aus meinem Katalog, die im 013 bislang nicht gespielt wurden. Und sagen wir so: Es gab Gründe, jetzt das Video zu „Days of the Knight“ (Vorabsingle aus der Neuveröffentlichung des ANTHONY-Albums „Pools of Sorrow, Waves of Joy“, Anm.) zu veröffentlichen … die Chancen stehen gut, dass man den Song live hört.
Dann kann ich mich da ja schon einmal drauf freuen. Ansonsten hatte Robert Soeterboek in unserem letzten Interview gesagt, dass er eher das Old-School-AYREON repräsentiere. Demzufolge müsste es ja auch ein New-School-AYREON geben. Ich fand die Beschreibung eigentlich ganz passend. Denn ich sehe so viele Fans unterschiedlichen Alters bei euren Shows, und viele davon sind rein altersbedingt definitiv noch nicht so lange mit an Bord und daher vermutlich eher mit Alben wie „The Source“ eingestiegen, statt wie viele andere mit zum Beispiel „Into the Electric Castle“. Und gerade, wenn man diese beiden Alben vergleicht, bemerkt man schon, dass sich der Sound von AYREON über die Jahre schon deutlich weiterentwickelt hat. Weißt du, was ich meine?
Ja, definitiv. Ich versuche ja auch immer, mich nicht zu wiederholen. Ein zweiter Song wie „Amazing Flight In Space“ (auf „Into the Electric Castle“, Anm.) würde nie so cool werden wie der erste. Vor jedem neuen Album frage ich mich: Wollen die Leute das proggige Electric-Castle-Zeug oder eher das Bombastische, die Heavyness von „The Source“? Ich höre zu, was Fans mögen – mir ist das nicht egal. Aber man kann nicht einfach liefern, was erwartet wird. Es geht um Inspiration – und die Balance zwischen Vertrautem und Neuem. Das ist immer recht schwierig.
Manche Bands werden für Stilwechsel kritisiert. Wie siehst du das Verhältnis von Fan‑Erwartung und künstlerischer Freiheit? Ich finde ja immer, dass nur weil man die CDs von Bands gekauft hat, gehört einem ja noch kein Anteil an der Band. Sodass man nicht verlangen kann, wie die Band von nun an zu klingen hat. Wenn Bands nur versuchen, ein altes Meisterwerk zu wiederholen, sterben sie meiner Meinung nach kreativ.
Ich weiß, was du meinst. Bei einer meiner absoluten Lieblingsband LED ZEPPELIN gab es auch irgendwann eine Entwicklung, die mir nicht mehr gefallen hat. Ich wollte auch lieber etwas hören wie „Led Zeppelin I„ oder „IV“. Ich versuche aber trotzdem auch immer auf die Fans zu hören. Auch wenn man nicht immer alle glücklich machen kann. Das sollte man daher auch nicht auf Teufel komm raus versuchen, sondern immer auf sein Herz hören.
Ich finde ja, dass dir mit AYREON das Kunststück gelungen ist, dass AYREON live eigentlich ewig weitergehen kann. Du selbst bist ja oft nur ein kleiner Teil davon und hältst dich eher im Hintergrund. Bei anderen Bands wird oft kritisiert, dass sie nur noch mit wenigen Originalmitgliedern auftreten, weswegen sich viele von ihnen abwenden. Bei AYREON ist alles auch ohne dein Mitwirken akzeptiert. Daher könnte es meiner Meinung nach auch in zwanzig oder dreißig Jahren noch AYREON-Konzerte geben.
Ja, das fände ich auch echt toll. Aber witzig, dass du das ansprichst. Erst gestern hatte ich Jost gesagt, dass falls mir irgendwas passieren sollte, bitte zieht die Shows durch. Macht bitte ohne mich weiter.
Wobei ich das natürlich nicht meinte und auch nicht hoffe, dass so etwas passiert (lacht). Ich hatte eher die Vorstellung, dass du mit 90 noch mit im Publikum stehst und die Show genießen kannst. Wobei ich sagen muss, dass ein AYREON-Album ohne deine Beteiligung für mich und für viele andere sicherlich auch unvorstellbar wäre. Du müsstest also zumindest immer noch die Musik liefern.
Das mag sein. Wobei KI auch immer besser wird. Aber ich hoffe sehr, dass wir Musiker nicht allzu schnell von KI abgelöst werden, sehe aber natürlich die Gefahr. Daher kämpfen wir einfach so lange wie möglich dagegen an.

Beim Zusammenstellen der Setlist für die Jubiläumskonzerte hast du dich ja sicher auch noch einmal intensiv mit deinem gesamten Katalog befasst. Hat sich dabei ein Album als dein persönlicher Liebling herausgestellt?
Schwer zu sagen. „Into the Electric Castle“ ist als Gesamtpaket stark – Story, Figuren, Artwork –, aber nicht jeder Song funktioniert live, wie mir auffiel, als wir es vor ein paar Jahren am Stück aufgeführt hatten. „The Universal Migrator 1&2“ (AYREON-Album von 2000, Anm.) hingegen ist diffuser, da es ein Doppelalbum mit zwei vollkommen anderen Richtungen ist, hat dafür aber einige der stärksten Songs. Das ist mir beim Erstellen der Setlist noch einmal bewusst geworden. Wobei ich da jetzt lieber vorsichtig sein möchte, bevor ich noch zu viel verrate. (lacht).
Dann etwas anders gefragt: Welches AYREON‑Album wird deiner Meinung nach unterschätzt und verdient mehr Liebe?
Da würde ich zum einen „The Theory of Everything“ (AYREON-Album von 2013, Anm.) nennen. Es ist extrem komplex und progressiv, und ich bin mächtig stolz darauf. So ein Album werde ich sicher nie wieder machen. Vielleicht wirkt es etwas zerpflückt, weil ich vier sehr lange Stücke in mehrere kleine Tracks unterteilt habe. Rückblickend hätte ich sie vermutlich eher als je einen Longtrack lassen sollen.
Zum Abschluss dann noch die obligatorische Frage: Wie geht es weiter? Gibt es konkrete Pläne?
Ich denke, es ist jetzt wirklich Zeit für ein neues AYREON‑Album. Konkrete Story-Ideen habe ich noch nicht – viele musikalische Skizzen, aber die Geschichte kommt später. Und vorher erscheint ja noch die Live‑Veröffentlichung der diesjährigen Konzerte. Realistisch peile ich das neue AYREON-Album daher für 2027 an.
Das wird viele Fans sehr glücklich machen. Und falls du noch Inspiration brauchst: Ich habe letztens gelesen, dass es vermutlich einen weiteren Planeten in unserem Sonnensystem gibt, der den Namen „Planet Y“ (fiktiver Planet der Alien-Rasse „Forever“) erhalten hat. Die Realität hat deine Geschichten also nun eingeholt. Das schreit doch nach einer Weiterführung der „Forever“-Saga.
Oh, das ist ja interessant. Das hatte ich gar nicht mitbekommen. Werde ich gleich im Anschluss einmal nachlesen.
Als letztes möchte ich noch eine traurige Nachricht ansprechen, die kürzlich mitgeteilt wurde. Nämlich das Edward Reekers (Sänger auf diversen AYREON-Alben und häufiger Teil der Live-Shows) sehr krank ist und daher nicht an den Shows teilnehmen kann. Sein Gesundheitszustand ist offenbar ja wirklich sehr ernst. Das hat mich wirklich getroffen, denn er war immer ein besonderer Teil meines gesamten Musiklebens und einfach so ein großartiger Sänger. Und für dich als Freund ist es wahrscheinlich noch viel schwerer. Ich möchte jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen, aber ich wollte die Gelegenheit einmal nutzen, um ihm alles Gute und viel Kraft zu wünschen.
Das ist wirklich toll von dir. Vielen Dank dafür. Uns beschäftigt es natürlich schon seit Langem. Es gab hoffnungsvolle Phasen, zuletzt aber auch wieder viele Rückschläge. Es ist wirklich herzzerreißend. Er ist so ein großartiger Mensch – und die prägende Stimme der frühen AYREON‑Alben. Immerhin ist er die erste Stimme, die überhaupt auf einem AYREON-Album zu hören ist.
Dann drücken wir ihm weiter die Daumen. Danke, Arjen, für deine Zeit – und viel Erfolg für die anstehenden Shows!
Sehr gern – ich freue mich auch schon sehr darauf. Und danke für das schöne Gespräch.