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GÍSLI GUNNARSSON - Úr Öskunni (2025)

(9.920) Olaf (10/10) Post Rock


Label: By Norse Music
VÖ: 07.01.2025
Stil: Ambient Post Rock






Ich sitze am Schreibtisch, Berlin nieselt vor sich hin, und in meinen Kopfhörern brechen Vulkane aus. Gísli Gunnarsson nennt sein Album Úr Öskunni – auf Deutsch: Aus der Asche – und selten hat ein Titel so präzise getroffen, was die Musik tatsächlich tut: Sie erhebt sich aus einem realen Schuttberg, den der Erdstoß hinterlassen hat, und formt daraus Klang, der nicht betäubt, sondern atmen lässt. Gitarren? Nur als feiner Hauch, ein Schatten, eine Erinnerung. Man stelle sich Sólstafir ohne Gitarren vor – das ist Gísli: cineastische, modern-klassische Schichten, die den Puls von Post-Rock und die Frostblume von Black-Metal-Harmonik nur streifen, niemals auswalzen. Und genau deshalb trifft es. Ich liebe es als Chef machen zu können, worauf ich Bock habe – unter anderem über ein Album zu sprechen, das nicht einmal im weitesten Sinne Heavy Metal ist und mich trotzdem (oder deswegen) seit mehr als einem Monat fast täglich begleitet.

Die Vorgeschichte ist brutal real – und sie liest sich wie eine alttestamentarische Prüfung. Grindavík, ein kleiner Fischerort im Südwesten Islands, wurde im Herbst 2023 zum Epizentrum einer Naturgewalt, die kein Drehbuchautor dramatischer hätte schreiben können. Wochenlang bebte der Boden, Risse zogen sich durch Straßen, und schließlich zwang der drohende Vulkanausbruch alle Einwohner zur Evakuierung. Die Lava kroch bedrohlich nahe an die Häuser, Schwefeldämpfe legten sich über den Ort – und irgendwann war klar: Hier kann man nicht bleiben. Gísli Gunnarsson gehörte zu jenen, die ihr Zuhause von einem Tag auf den anderen verloren. Grindavík, einst Sinnbild für Ruhe und Zusammenhalt, wurde zum Symbol des Ungewissen.

In dieser Ausnahmesituation suchte Gísli nicht nach großen Worten, sondern nach Klang. Wie so viele Isländer, die gelernt haben, mit der Launenhaftigkeit ihrer Insel zu leben, machte er aus dem Beben Musik – und zwar nicht als Flucht, sondern als Dokumentation. Er hängte sich, wie es die Menschen dort seit Jahrhunderten tun, an die Landschaft: an ihre Härte, ihre Schönheit, ihre Gleichgültigkeit gegenüber menschlichen Tragödien. Die Presseinfo spricht von „Refuge“ – Zuflucht – und genau das ist Úr Öskunni: eine vertonte Notunterkunft für die Seele.

Als ihn das Rote Kreuz in ein abgelegenes Sommerhaus umsiedelte, entstand dort Heima (Zuhause) – ein Lied wie ein seelischer Rückbauplan. Ich höre darin das Nachglühen der Räume, die man verlassen musste, das Echo vertrauter Schritte auf fremdem Boden. Chorale ohne Pathos, ein Klavierthema, das nicht weint, sondern leise nachzeichnet, was fehlt. Kein Lamento, sondern ein Raster aus Atemzügen. Die Sorte Musik, die nicht um Aufmerksamkeit bittet, sondern sie durch Würde bekommt.

Glókolla – frei als „Goldköpfchen“/„helles Köpfchen“ zu lesen – trägt diesen Lichtschein, den Menschen füreinander sein können, wenn es rau wird. Der Track wirkt, als lege jemand eine warme Hand auf die Schulter: mehr Auftrieb als Eskapismus, eine kleine, sachte Beschleunigung, die Hoffnung nicht als große Geste, sondern als Körpergefühl einfädelt. Und dann Andlitin í Berginu (Die Gesichter im Fels): Island-Folklore, ja – aber nicht museal. Gísli imaginiert jene Trolle aus den Lavafeldern, von denen viele Kinder in Grindavík erzählen, und zieht ihnen ein Zeitgewand aus Stille über: alter Blick, junge Wunde. Die Formationen am Þorbjörn sind kollabiert; in der Musik bleiben sie als Konturen bestehen, zerklüftet, würdevoll, beinahe sakral.

Klanglich verschiebt Gísli die Bühne deutlich auf das Solistische. Nach dem kollaborativen Mementos (2023) – auf dem er mit Georg Holm (Sigur Rós), Mat McNerney (Hexvessel, Grave Pleasures) und Laufey Soffía (Kælan Mikla) arbeitete – ist Úr Öskunni der bewusste Schritt ins Alleinsein. Kein Rückzug aus der Welt, sondern eine klangarchitektonische Entscheidung. Wo Post-Rock gewöhnlich türmt und kathedralisiert, arbeitet Gísli mit Leere als Material: Luft zwischen den Stimmen, Pausen, die etwas tragen, nicht unterbrechen. Streicherflächen wie Nordlichter – sie erscheinen, verwehen und hinterlassen das Gefühl, etwas gesehen zu haben, das sich nicht greifen lässt. Die schwarzen Ränder – hier und da modale Wendungen, die man aus dem Black-Metal-Vokabular kennt – bleiben Andeutung, kein Genre-Statement. Shoegaze? Eher als Nebel denn als Wand. Das Klavier ist der Erzähler, die Elektronik der Schneefall, die leisen Chöre der Atem. Nichts zum Feiern, nichts zum Saufen – zum Runterkommen, Chillen, Genießen. Ich höre dieses Album wie gesagt seit längerem, und es wird immer größer, wie eine Landschaft, die man täglich aus demselben Fenster betrachtet und trotzdem stets an einer anderen Stelle entdeckt.

Was mich am meisten beeindruckt: Gísli Gunnarsson bildet ein Land ab, ohne Postkarten zu verschicken. Man sieht Island, man spürt es: Schnee, Dunkelheit, Polarlichter, dieses eigenartige Zusammenspiel aus Herbheit und Trost. Es gibt diese Passagen, in denen die Musik wie frische, klare Luft klingt – man möchte die Fenster öffnen, obwohl es draußen friert. Und dann wiederum diese warmen Inseln, die einem sagen: Du bist nicht allein. Wenn die Presseinfo von „diary“ spricht, nicke ich: Ja, aber es ist eines, das man mitlesen darf, ohne sich als Voyeur zu fühlen.

Vergleiche? Nur als Geländer: Wer Sólstafir mag, aber die elektrische Schwere manchmal als zu viel empfindet, findet hier den destillierten Geist – naturverbunden, wortkarg, groß. Wer bei Alcest die schimmernden Harmonien liebt, aber weniger Nebelwand und mehr konturierte Stille sucht, wird Úr Öskunni wie ein klares Sternbild lesen. Und wer mit moderner, filmischer Klassik etwas anfangen kann, ohne ins Zuckerbad zu rutschen, bekommt hier genau die richtige Mineralität.

Ich habe lange überlegt, welcher Moment mein persönlicher Schlüssel ist. Es ist keiner der offensichtlichen Gipfel, sondern diese Übergänge, wenn ein Akkord nicht „auflöst“, sondern die Tür nur einen Spalt öffnet. Diese Musik weiß, dass Trost nicht in großen Gesten liegt, sondern in verlässlicher Gegenwart. Dass man nicht alles sagen muss, um verstanden zu werden. Dass Schweigen auch eine Form von Sprache ist.

Am Ende bleibt mir nur, das Offensichtliche zu sagen: Das Album ist unfassbar atmosphärisch, zum Träumen schön und bildgewaltig – und gerade weil Gitarren nur spärlich vorkommen, strahlt es weit über Szenegrenzen hinaus. Nicht „für Metal-Abende“, sondern für die stillen Zwischenräume des Lebens. Ein Werk, das nicht laut „Meisterwerk“ ruft, sondern eines ist, wenn man ihm Zeit gibt. Úr Öskunni ist kein Album, das man „weg-hört“, sondern eines, in das man hineinsieht wie in winterliche Luft: klar, kalt, tröstlich. Gísli Gunnarsson schreibt kein Dramolett über Katastrophe, sondern verwandelt Erschütterung in Geometrie aus Licht und Schatten. Je länger es läuft, desto mehr wächst es – wie Lava, die zu neuem Land wird. Nichts zum Feiern, alles zum Fühlen.


Bewertung: 10 von 10 Punkten


TRACKLIST

01. Heima
02. Lupina
03. Andlitin i Berginu
04. Aska
05. Glokolla
06. Soeknu ur
07. Jofagja
08. Alftavatn 
09. Tomarum
10. Ar sem vindurinn ekkir nafn mitt 



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