ARJEN ANTHONY LUCASSEN – Songs No One Will Hear (2025)
(9.788) Jörn (8,8/10) Progressive Rock

Label: InsideOut Music / Sony Music
VÖ: 12.09.2025
Stil: Progressive Rock
Ich will mich wahrlich nicht darüber beschweren, dass ich mittlerweile der redaktionsinterne Sonderbeauftragte für ARJEN-LUCASSEN-Veröffentlichungen aller Art geworden bin. Ganz im Gegenteil. Schließlich bin ich seit gut einem viertel Jahrhundert selbst glühender Anhänger all seiner musikalischen Spielwiesen. Ganz egal, ob es sich um eines seiner zahlreichen Nebenprojekte oder das Mutterschiff AYREON handelt. Und immerhin springen dabei auch so lebenstraumerfüllende Momente heraus, wie etwa mein Interview mit ihm und seinem langjährigen Kompagnon Robert Soeterboek (welches ihr hier nachlesen könnt).
Auf der anderen Seite ist Arjen so dermaßen fleißig, dass ich manchmal mit dem Reviewen kaum hinterherkomme. Denn seit Kurzem hat sich der Gute anscheinend angewöhnt, gleich mehrere Veröffentlichungen an einem Tag rauszuhauen. So geschehen im letzten Jahr, als er die „01011001“-Live-Nachlese sowie das erste PLAN NINE-Album zeitgleich auf den Markt warf. Und als wäre das nicht genug, folgte kurz darauf noch das vortreffliche Soloalbum von SIMONE SIMONS, welches er der EPICA-Frontsirene auf den Leib geschneidert hatte.

Man könnte meinen, dass es Arjen, mittlerweile auch immerhin Mitte sechzig, in diesem Jahr daher vielleicht etwas ruhiger angehen würde. Tja, falsch gedacht. Denn auch in 2025 holt der zwei-Meter-Riese zum Rundumschlag aus. Zwar ging es im Frühjahr mit der von ihm höchstpersönlich neugemischten Version des AYREON-Klassikers „The Human Equation“ noch relativ gemächlich los. Aber den Vogel schießt er am 12. September dieses Jahres ab. Denn nicht nur startet an diesem Tag im niederländischen Tilburg wieder einmal der dreitägige AYREON-Konzertwahnsinn (ich werde vor Ort sein und berichten).
Nein, auch dieses Mal kommt es zu einer Massenveröffentlichung. Denn am gleichen Tag erblickt einerseits eine entstaubte Version seines zwischenzeitlich vergriffenen Albums „Pools Of Sorrow, Waves Of Joy“ (welches damals bei Erscheinen im Jahr 1993 noch unter seinem Zweitnamen ANTHONY erschien) das Licht der Welt. Und als wäre das alles noch nicht genug, versüßt uns Mr. L. darüber hinaus den Tag mit einem brandneuen Soloalbum. Das gute Stück hört auf den Namen „Songs No One Will Hear“ und soll hier im Folgenden einmal genauer betrachtet werden. Also, legen wir los.
Hinter dem zunächst etwas schräg wirkenden Albumtitel steckt wie so oft bei Arjens Veröffentlichungen eine Story. Wobei es sich hier eher um eine Prämisse, denn um eine richtige Geschichte handelt. Wieder einmal geht es der Menschheit an den Kragen. Hat Herr Lucassen in seiner AYREON-Main-Storyline Homo Sapiens sich durch Kriege und wenig nachhaltige Lebensweisen noch selbst ins Jenseits schicken lassen, übernimmt auf seinem ersten Soloalbum seit 2013 nun ein Asteroid diesen Job. In Angesicht des unvermeidbaren Einschlags auf der Erde und dem damit einhergehenden Ende allen menschlichen Lebens, wird in den acht Songs der Platte jeweils ein anderer möglicher Umgang mit der sicheren Vernichtung behandelt. Ganz nach dem Motto: Wie würdest du deine letzten Tage verbringen, wenn du weißt, dass der Tod unausweichlich ist?
Während sich die einen fragen, ob sie sich nun lieber in Verzweiflung ihrem Schicksal ergeben oder stattdessen einfach eine große letzte Party starten sollen, glauben sich wieder andere einer großen Verschwörung auf der Spur und sehen in dem Felsbrocken aus dem All nichts anderes als Fake News. Die damit einhergehenden unterschiedlichen Emotionen bieten Arjen die Möglichkeit, eine große Bandbreite an Gefühlen auf seinem Album auszuloten. Und das macht er mit gewohnter Klasse.

Gleich zu Beginn fühlt man sich direkt wieder wie zuhause. Es dauert nur wenige Sekunden, und jede mit dem Lucassen’schen Klangkosmos vertraute Person wird sofort erkennen, wer hier am Werk ist. Denn die Handschrift des Meisters ist zu jeder Sekunde greifbar. Das liegt zum einen an den zahlreichen Gästen, die Arjen eingeladen hat, um ihn auf seinem neuen Soloausflug zu unterstützen. Denn unter ihnen befinden sich alte AYREON-Bekannte wie Marcela Bovio, Irene Jansen oder der bereits zuvor erwähnte Robert Soeterboek.
Zum anderen hat Arjen längst einen ganz eigenen Sound etabliert, der je nach Veröffentlichung mal metallischer, mal elektronischer oder auch düsterer ausfällt, aber immer einen enormen Wiedererkennungswert hat. Für „Songs No One Will Hear“ scheint sich der Althippie Lucassen aber besonders auf seine eigenen musikalischen Wurzeln besonnen zu haben. Denn auf kaum einem anderen Werk zuvor hat er so stark seiner Vorliebe für die BEATLES freien Lauf gelassen. Zwar wird in Stücken wie „Goddamn Conspiracy“ oder „Shaggathon“ ordentlich DEEP-PURPLE-mäßig abgerockt, oder im Opener „The Clock Ticks Down“ in Richtung düsterer PINK-FLOYD geschielt. Aber hört man sich Stücke wie „The Universe Has Other Plans“ oder die süße reduzierte Akustiknummer „Just Not Today“ an, bekommt man einen Eindruck davon, wie John Lennon heutzutage klingen könnte, wäre er noch am Leben.
Unterstrichen wird dieser Eindruck noch einmal zusätzlich durch die Tatsache, dass überall zwar immer noch zuhauf die typischen großartigen und originellen Lucassen-Melodien omnipräsent sind, er dieses Mal allerdings häufig auf Synthesizer verzichtet hat. Das, zusammen mit der Tatsache, dass wieder einmal mit zahlreichen Streichern und Flöten aller Art vorrangig auf echte akustische Instrumente zurückgegriffen wurde, verleiht dem Album eine angenehm erdige und bodenständige Produktion nach modernen Maßstäben. Klar, ab und an braten auch verzerrte Gitarren durch die Lautsprecher, aber so selten, dass ich hier eher von einem Prog-Rock als -Metal-Album reden würde.
Den emotionalen Höhepunkt liefert dann das Duett mit Floor Jansen im traurigen „We‘ll Never Know“, in dem sie wieder einmal beweist, dass sie einfach eine der absolut besten Sängerinnen der Welt ist. Was sie hier an Emotionalität in jede einzelne Silbe legt, ist schlicht phänomenal und stellt das absolute Highlight auf einem insgesamt fantastischen Album dar. Wobei ich hier auch einmal ein dickes Lob an Arjen selbst aussprechen möchte, der sich ja gerne öfters mal in Understatement übt, sich mit seiner Stimme allerdings nun wirklich nicht verstecken muss.
Generell schwingt für mich in allen Songs ein latent melancholischer Unterton mit. Etwas, das Lucassen im Laufe des Produktionsprozesses auch aufgefallen sein dürfte, weswegen er wohl kurzerhand Mike Mills engagierte, der bereits öfters als Paradiesvogel in seinen Werken auftauchte. Sein Job ist es, zwischen den Songs einen Radiomoderator zu geben, der die jeweiligen Songs immer passend mit teils komischen, teils zynischen Kommentaren einleitet und so als eine Art Comic-Relief fungiert. Wer darauf übrigens verzichten möchte, kann zur limitierten 3CD-Version des Albums greifen, bei der auf einer der Bonus-Discs ausschließlich die Songs selbst zu finden sind, was tatsächlich noch einmal einen deutlichen Unterschied in der Gesamtwahrnehmung macht.
Ob es Arjen allerdings mit dem das Album abschließenden „Our Final Song“ wörtlich meint und wir hier tatsächlich seine allerletzte Nummer zu hören bekommen, wage ich zu bezweifeln. Denn mit „Songs No One Will Hear“ beweist er einmal mehr, dass er nach wie vor eine übersprudelnde Quelle an großen Melodien und magischen Momenten ist und musikalisch noch viel zu erzählen hat.
Und spätestens, wenn ich mich nächstes Jahr wieder im nächsten Lucassen-Review-Marathon wiederfinde, weiß ich, dass ich Recht hatte.
Anspieltipps:
🧩 Goddamn Conspiracy
💥 We’ll Never Know
Bewertung: 8,8 von 10 Punkten
TRACKLIST
01. End Of The World Show
02. The Clocks Ticks Down
03. Goddamn Conspirary
04. The Universe Has Other Plans
05. Shaggathon
06. We’ll Never Know
07. Dr. Slumber’s Blue Bus
08. Just Not Today
09. Our Final Song