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CORONER – Dissonance Theory (2025)

(9.847) Olaf (9,5/10) Thrash Metal


Label: Century Media
VÖ: 17.10.2025
Stil: Thrash Metal






Es gibt diese seltenen Momente, in denen die eigene musikalische Biografie plötzlich eine neue, goldene Klammer bekommt. 1988 war das, im Quartier Latin in Berlin, als Coroner gemeinsam mit Rage und Running Wild die Bühne zerlegten. Drei Schweizer, die damals klangen, als hätten sie in Zürich das Raum-Zeit-Kontinuum der Bay Area aufgeschnitten und durch ihre Präzisionsuhren gejagt. Später saß ich mit ihnen im Skytrack Studio, während Mental Vortex Gestalt annahm – und am Wochenende danach spielten wir mit dem halbem Berliner Musik Underground in Heiligensee Fußball. Tolle Zeiten. Und genau deshalb war die Nachricht von einem neuen Album, nach all den Jahren, mehr als nur nostalgisch – sie war ein kleines Wunder.

Dass Coroner mit Dissonance Theory das Comeback des Jahres hinlegen, ist keine gewagte Behauptung, sondern schlichte Feststellung. Machen wir uns nichts vor: Dieses Trio hat hunderte Bands inspiriert, von Kreator über Obscura bis zu Voivod. Und obwohl nur Gitarrist Tommy Vetterli und Bassist/Sänger Ron Broder von der Originalbesetzung übrig sind, ist ihr neues Schlagzeug-Tier Diego Rapacchietti ein mehr als würdiger Nachfolger für Marquis. Der Mann spielt mit einer Präzision, die jedem Metronom Schweißperlen auf die Rädchen treibt – und zugleich mit Seele.

Bereits beim ersten Durchlauf wirkt Dissonance Theory wie ein vergessenes Relikt aus der Ära zwischen No More Color und Grin – nur mit modernerem Klang und der Erfahrung von drei Jahrzehnten. Produziert wurde das Ganze fett, dicht, rund, transparent und wohlklingend, genau richtig für den dunklen Anstrich, den Coroner seit jeher pflegen. Dass Jens Bogren am Endmix beteiligt war, hört man, aber die eigentliche Magie steckt in Vetterlis eigenem New-Sound-Studio, wo analoge Synths, Harmonium und Röhrenamps miteinander verschmelzen, als wollten sie beweisen, dass Technik durchaus Herz haben kann.

Schon der zweite Track Consequence eröffnet ein Panorama zwischen digitalem Irrsinn und menschlicher Ohnmacht. Wenn Broder singt: “Too smart for our own good / True stupidity” dann ist das keine Dystopie, sondern eine nüchterne Diagnose unserer Gegenwart. KI, Selbstoptimierung, Dauer-Input – Coroner fassen das Chaos der Gegenwart in präzise, kalte Worte und jagen es durch rhythmische Brüche, die klingen, als wäre der Algorithmus durch einen Fleischwolf gedreht worden. Der Songtitel selbst ist Programm: Konsequenzen gibt es immer – nur selten die, die man erwartet.

Sacrificial Lamb geht inhaltlich tiefer, theologisch fast – und das, ohne Pathos. “Did I not make myself clear? / Did I not warn repeatedly?” heißt es da, bevor die Worte “These shall make war with the Lamb, and the Lamb will overcome them” eine apokalyptische Gravitas entfalten, die sofort an die alten Textwelten von No More Color erinnert. Broders Stimme hat nichts von ihrer Schärfe verloren – sie zischt, spuckt und predigt gleichermaßen, als wäre er ein zynischer Prophet, der längst nicht mehr an Erlösung glaubt.

Dissonance Theory ist ein Titel, der perfekt beschreibt, was dieses Album ist: eine Lehre aus Unstimmigkeit, aus der Kunst, Reibung in Schönheit zu verwandeln. Jeder Takt, jeder Anschlag ist berechnet und zugleich instinktiv – mathematisch präzise, aber niemals steril. Das Trio zeigt, dass Progressivität nichts mit verkopfter Selbstverliebtheit zu tun haben muss. Trotz all der rhythmischen Vertracktheit bleibt die Musik nachvollziehbar, absolut kopfnickbar, ja: körperlich. Diese Musiker sind überragend – damals wie heute – und gehören auf Platte wie auf der Bühne zur Speerspitze des europäischen Highclass Thrash.

Und dann Symmetry: ein Song über Selbstwahrnehmung, über den Narzissmus unserer Zeit. “What makes me shine is my own reflection / Death alone may take this divine augment.” Diese Zeilen treffen wie ein Schlag in den Spiegel – und man spürt, wie Broder den Finger in die Wunde legt, die Instagram, Schönheitswahn und moralische Selbstinszenierung hinterlassen haben. Der Song schiebt sich mit ungerader Taktstruktur durch die Synapsen, Vetterlis Solo ist ein Statement: sauber, unberechenbar, brillant. Kein Gitarrist phrasiert so klug, so ökonomisch, so „Coroner“.

Und dann kommt Prolonging. Kein Gesang, keine Worte – nur ein Crescendo aus Dunkelheit, getragen von einer fetten Hammond-Orgel, die das letzte Licht aus der Dissonanz zieht. Es ist, als würde jemand den Raum verlässt, während draußen langsam der Regen einsetzt. Ein Schlussakt, der nicht endet, sondern verhallt. Großartig. Und ich muss zugeben, dass ich es beim ersten Durchhören gar nicht merkte, dass es sich hier um ein Instrumental handelt, so versunken war ich im Coroner’schen Universum.

Was dieses Album so faszinierend macht, ist seine Balance. Es ist weder reine Nostalgie noch ein verzweifelter Modernisierungsversuch. Coroner haben verstanden, dass Authentizität nicht im Wiederholen, sondern im Weiterdenken liegt. Sie schauen nicht zurück, sondern durch die Rückspiegel in die Zukunft. Dissonance Theory könnte genauso gut 1998 erschienen sein – oder 2030. Zeitlosigkeit durch Haltung. Die Texte, von Consequence bis Renewal, sind dichterisch, aber nie verkopft. Sie handeln von Mensch und Maschine, von Schuld, Erkenntnis, Spiegelung, Apokalypse. Sie sind wissenschaftlich präzise und spirituell zugleich – ein seltenes Kunststück. Broder schreibt nicht, um zu gefallen, sondern um zu verstehen. Und genau das macht Coroner seit jeher so besonders: Diese Musik denkt mit.

Wer sich fragt, ob man einzelne Songs herausheben kann – nein, kann man nicht. Dissonance Theory ist ein Gesamtkunstwerk. Ein Zyklus, ein Statement, ein musikalisches „Wir sind noch da“. Für mich persönlich reiht es sich direkt hinter Mental Vortex ein – jenes Album, das mir damals im Studio schon wie ein Monolith vorkam. Wenn man nach 30 Jahren Pause so zurückkehrt, darf man pathetisch werden. Aber Coroner vermeiden jedes Pathos. Stattdessen liefern sie ein Werk, das in sich ruht, ohne stillzustehen. Jede Sekunde klingt nach Entschlossenheit, nach Handwerk, nach Seele.

Man hört, dass Vetterli und Broder dieses Album nicht für Fans, Kritiker oder Nostalgiker gemacht haben, sondern für sich selbst. Und genau das ist der Grund, warum es funktioniert. Sie versuchen nicht, ein Vermächtnis fortzuführen – sie leben es einfach.

Dissonance Theory ist das Comeback des Jahres, keine Frage. Ein Album, das zeigt, dass Reife kein Hindernis, sondern ein Werkzeug ist. Coroner klingen 2025 nicht wie Veteranen, sondern wie eine Band, die gerade erst begreift, wie gut sie wirklich ist. Technisch brillant, emotional ehrlich, textlich messerscharf. Wer wissen will, wie man nach 40 Jahren Bandgeschichte noch relevant klingen kann – hier ist die Antwort.

Achja…wenn die Band das hier liest…BITTE: Ich muss unbedingt mit Euch ein Interview machen! Alle bisherigen Bemühungen verliefen im Sande! Danke für die Aufmerksamkeit!


Bewertung: 9,5 von 10 Punkten


TRACKLIST

01. Oxymoron
02. Consequence
03. Sacrificial Lamb
04. Crisium bound
05. Symmetry
06. The Law
07. Transparent Eye
08. Trinity
09. Renewal
10. Prolonging 



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